Aufklärung und Evangelisation: Kirche in der Herausforderung

Aufklärung und Evangelisation: Kirche in der Herausforderung
Aufklärung und Evangelisation: Kirche in der Herausforderung
 
Die vielfältigen Entwicklungen in allen Lebensbereichen bescherten im Verlauf des 19. Jahrhunderts auch den christlichen Kirchen mehrere Problemfelder. Der Prozess der Industrialisierung bestimmte den Übergang von agrarischen Lebensformen zu einer Arbeitswelt, in der ökonomisches Wachstum zur Entwurzelung und Verstädterung vieler Menschen führte und mit privater und sozialer Not der lohnabhängigen Fabrikarbeiter und ihrer Angehörigen einherging. Mit dem starken Anstieg der Bevölkerung in Europa - zwischen 1800 und 1925 von 170 auf 470 Millionen Menschen - und den wachsenden Großstädten vermehrte sich soziales Elend. Der Hoffnung auf Heilung der gesellschaftlichen Schäden und auf bessere Zeiten genügte die in Anstalten und Vereinen organisierte Liebestätigkeit nicht. Die sozialen Veränderungen innovativ und umfassend zu begleiten und zu steuern, war das herkömmliche Christentum jedoch nicht in der Lage. Durch die industrielle Revolution mit ihren Begleiterscheinungen und Folgen für privates und öffentliches Leben geriet das Christentum in eine Krise, die seine Substanz und seine Präsenz in der Gesellschaft bedrohte.
 
Das geistige Leben folgte dem Wahlspruch der Aufklärung, wie ihn Immanuel Kant im 18. Jahrhundert formuliert hatte. Man bediente sich des »eigenen Verstandes« und machte von der »Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch«. Nicht länger den dogmatischen Vorgaben unterworfen, entwickelten Philosophie und Wissenschaft neue Denkweisen und Methoden.Religionskritik zersetzte den christlichen Geltungsanspruch, historisch-kritische Forschung machte das Offenbarungswissen fragwürdig. Der Bibel blieb nur noch ein Platz unter den literarischen Urkunden. Der Geist der Aufklärung offenbarte eine eigentümliche theoretische Schwäche der christlichen Religion - der bloße Rekurs auf die Offenbarung konnte die Glaubwürdigkeitskrise nicht beseitigen - und bewirkte innerkirchliche und theologische Polarisierungen.
 
Den Mentalitätswandel der Menschen in ihrem Verhältnis zur christlichen Religion begleiteten die politischen Kräfte des Konservatismus, Nationalismus, Liberalismus und Sozialismus in ihren ideologischen Welterklärungen. Sie waren jeweils mit spezifischen Vorstellungen über Staat und Gesellschaft verbunden. Ihre Theorie- und Praxiskonzepte betrafen auch die Beziehung zur Kirche als Institution und gesellschaftlichen Teilbereich. Der politische Konservatismus konnte sich in dem Bestreben, Gewordenes und Bestehendes durch eine obrigkeitlich-monarchische Ordnung zu erhalten, mit der Kirche als Traditionsträger verbünden. Die »Ehe von Thron und Altar« diente gemeinsamen Interessen. Demgegenüber bildete das demokratische Ideengut des Nationalismus ein andauerndes Reizthema für Kirche und Theologie. Doch es bestanden genügend unbewusste und indirekte Beziehungen zu dem religiösen Bereich, die das Vermischen von nationalem und christlichem Denken ermöglichten. Mit der »Ehe zwischen Reformation und Deutschtum« konnte man Gott und der Nation dienen. Der konkurrierende Liberalismus verfocht Religionsfreiheit und religiöse Toleranz. Seiner relativierenden Distanz zum Christentum entsprach die Forderung nach strikter Trennung von Staat und Kirche.
 
Weniger gleichgültig, vielmehr aggressiv bewertete der marxistisch geprägte Sozialismus die christliche Religion. Als ein wissenschaftlich überholtes und gesellschaftlich reaktionäres Phänomen werde sie in den sozialpolitischen Umwälzungen von selbst verschwinden. In dem von Lenin formierten Sozialismus verband sich die atheistische Propaganda mit dem Ziel, die religiösen Überzeugungen gänzlich auszurotten. Aber damit nicht genug: Mit dem Marxismus-Leninismus gelangte eine politische Heilslehre zur Herrschaft, die Menschen und Völker in ihren Bann schlug. Gegen den proletarischen wie den bürgerlich-liberalen Internationalismus formierte sich der Faschismus. Seinem Feindbild, das sich zunächst gegen Marxismus und Liberalismus gerichtet hatte, fügte die nationalsozialistische Ideologie das Judentum als Urfeind hinzu; dessen Vernichtung war ein erklärtes Ziel. Bei dem Machtkampf zwischen den verschiedenen Weltanschauungen und politischen Ideologien geriet das Christentum zwischen alle Fronten. Parteinahme für die eine oder andere Ansicht wirkten sich kirchlich und theologisch konfliktträchtig aus. In der Abwehr der totalitären Machtansprüche kämpfte das Christentum um das eigene Überleben.
 
Im alten Europa schien das Christentum kraftlos, den zeitgenössischen Anstürmen nicht gewachsen. Anderenorts hingegen feierte es Triumphe. In den eroberten Gebieten der Kolonialmächte zeitigten missionarischer Eifer und Sendungsbewusstsein beträchtliche Erfolge. Zwar konnten die gelegentliche Übereinstimmung mit dem kolonialistischen Expansionsstreben und die Kooperation mit den jeweiligen Kolonialherren die rapide Ausbreitung des Christentums ins Zwielicht bringen; aber Gründung und Aufbau der »jungen Kirchen« resultierten aus dem Engagement der Missionare und dem sachlichen Aufwand zahlloser Missionsgesellschaften. Das Programm einer »Evangelisation der ganzen Welt in dieser Generation« schien sich zu erfüllen. Belastet wurde dieser Optimismus durch die konfessionelle Spaltung der Christenheit und die wechselseitige Konkurrenz auf den Missionsfeldern. Der Mangel an sichtbarer Einheit der Kirchen beeinträchtigte die Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses. Den missionarischen Besitzständen drohten zudem Gefahren durch kulturelle und nationale Selbstbehauptung der Völker, deren zunehmende politische und soziale Emanzipation sowie durch wirtschaftliche Krisen. Die eigenständige Existenz der einheimischen Kirchen war verflochten mit der »Inkulturation« ihres Bekenntnisses und eingebettet in die Entwicklung ihres Umfeldes. Nicht zuletzt musste das Verhältnis zu anderen Weltreligionen neu bedacht werden. Die »Evangelisation der ganzen Welt« stieß an Grenzen, wo ihr andere religiöse Überzeugungen entgegenstanden. Der missionarische Erfolg war noch kein Sieg der christlichen Religion.
 
Prof. Dr. Dr. Erwin Fahlbusch
 
 
Daiber, Karl-Fritz: Religion unter den Bedingungen der Moderne. Die Situation in der Bundesrepublik Deutschland. Marburg 1995.
 
Geschichte des Christentums, Band 3: Krumwiede, Hans-Walter: Neuzeit. 17.—20. Jahrhundert. Stuttgart u. a. 21987.
 Lübbe, Hermann: Religion nach der Aufklärung. Graz u. a. 21990.

Universal-Lexikon. 2012.

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